Technetoistische Rezension: Myst Exile

Das Adventure Myst Exile konfrontiert den Spieler sehr schnell mit einem überraschenden Angriff, der die unvorbereitete Verfolgung von Saavedro zu Folge hat. Doch nachdem die zwangsläufig aussichtslose Verfolgung zunächst darin endet, sich mit den Spuren der psychischen Gewalt, die ihm durch Sirrus und Achenar angetan wurden, fällt das Spiel keineswegs in die altbekannten, aber eher fragwürdigen Muster zurück: Zwar geht es hauptsächlich wieder darum, in den zurückgelassenen, unbewohnten Umgebungen durch die Analyse der Begebenheiten das eigentliche Ziel zu erreichen (Saavedro zu fassen und Releeshan zurückzuholen), doch die schweren Taten, die Saavedro angetan wurden, führen, zusammen mit der anfänglichen Provokation durch Saavedros plötzlichen Auftreten, bei dem er in einem Brandanschlag das Verbindungsbuch Releeshan, in das Atrus viel Hoffnung gesetzt hatte, erstmals dazu, dass Robyn Millers Modell, dass sich das Adventure-Game aus einer Provokation über eine nicht-lineare Handlung in eine moralische Entscheidung entwickelt, wirklich umgesetzt wurde – ironischerweise an der ersten Produktion, an der er nicht mehr unmittelbar beteiligt war. Dennoch lassen sich einige Konstrukte, die sich nur bedingt inhaltlich rechtfertigen lassen, wiederfinden, etwa das Konzept, gleichartige Objekte an verschiedenen Orten zu finden, und beim Erwerb von allen das Finale zu erreichen (dieses Modell hatte bereits Myst 1 mit den Seiten, in Dragon Quest IX sind es die Fyggen und bei Dragon Ball die namensgebenden Kugeln, und auch in den Pokémon-Spielen sind es die Orden, und bei Legacy of Time die drei Bestandteile des Artefakts). Die Rechtfertigung dieser Struktur, die im Wesentlichen eher dazu geschaffen sein dürfte, es dem Spieler unnatürlich einfach zu machen, erfolgt in Myst Exile damit, dass die Brüder in der Übungswelt schrittweise die Natur begreifen sollten, bis ihnen dann in Narayan die finale Aufgabe bevorstehen wird – und diesen Weg muss der Spieler, wenn auch unter Zuhilfenahme der aufgefundenen Notizen, nun ebenso gehen. Dass diese Rechtfertigung, deren Plausibilität durchaus gegeben ist, auch ernst genommen werden darf, zeigt sich darin, dass die Rätsel wenig „beliebig“ (arbitrary) wirken (auch dies war eine Anforderung, die Robyn Miller an die Rätsel des Adventure Games stellte), und das, obwohl es im Zusammenhang mit der Behauptung, es wäre eine Übungswelt, durchaus akzeptiert worden wäre. Doch man ist nicht nur mit den Herausforderungen konfrontiert, mit denen auch die Brüder konfrontiert wurden – so charakterisieren sich viele der Rätsel auch dadurch, die von Sirrus und Achenar ausgelöste Zerstörung umzukehren oder trotzdem weiter zu kommen. Ferner darf die Kritik an dem Sammeln der Objekte auch nicht alleine unter dem Vorwand des Klischees pauschal kritisiert werden, sondern es muss in jedem Einzelfall beurteilt werden, ob die Verwendung angemessen ist. Zum Zeitpunkt des Erscheinens von Myst Exile hatte Riven bereits demonstriert, dass dieses Design-Element nicht notwendig ist, also nach inhaltlichen Überlegungen gewählt werden sollte.

Ebenfalls in Riven gänzlich aufgegeben wurde das in Myst Exile teilweise zurückgekehrte Disneyland-Modell, welches im Prinzip nur bedeutet, dass es einen wichtigen zentralen Punkt gibt, der jederzeit die Orientierung ermöglichen kann, und so verhindert, dass man sich grundlegend verläuft. Zur Zeit von Myst war dieses noch damit begründet, dass wegen der geringen Lesegeschwindigkeit der CD‑ROM jederzeit bekannt sein musste, was in etwa die nächsten Frames sind, die geladen werden. Betrat also jemand im Ur-Myst den Bereich mit dem Raumschiff, lagen alle damit verbundenen Frames physisch nahe beieinander auf der CD‑ROM, sodass diese schneller geladen werden konnten, als etwa ein Frame aus dem Dachboden der Festung im mechanischen Zeitalter, das auch logisch weit entfernt war. Dieses Modell hatte nicht nur die technische Limitierung relativiert, sondern führte auch zur Vereinfachung des Spiels, mit dem Nachteil, dass sie nicht angebracht ist in Strukturen, die über einen langen Prozess organisch entstanden sind. Riven setzte hauptsächlich auf lange Wege mit großen Flächen, sodass das Disneyland-Modell graphentheoretisch gesehen zwar weiterhin existierte, aber so geschickt verschleiert, das es natürlich wirkte. Und in Myst Exile? Auf J'nanin, wo der Spieler übrigens die wenigste Zeit verbringt, befindet sich ein markanter Turm, der nicht nur das Cover schmückt, sondern auch eine perfekte Orientierung bietet. Doch er liegt in einer Schlucht, und ist daher keineswegs trivial und von überall zugänglich. Weiterhin wurde das Modell insofern schon in Myst in Frage gestellt, dass es große Strukturen gab, die über die ganze Insel verteilt waren, so auch in Myst Exile die Farbschalter. Derartige Anordnungen legen eher die Wirkung nahe, dass es sich über einen längeren Zeitraum natürlich entwickelte, also (ähnlich wie die optischen Telegrafen des frühen 19. Jahrhunderts) die Orte für die Farbprojektoren abhängig von der Landschaft gewählt worden sind – und nicht umgekehrt, obwohl der 3D-Grafiker diese trügerische Fähigkeit besitzt. Dies ist ein Beispiel dafür, wie das Modell relativiert wurde, aber als grundlegende Struktur erhalten blieb. Andere Zeitalter wie Edanna weisen es dagegen überhaupt nicht auf.

Nach dieser ziemlich ausführlich ausgefallenen Beurteilung der Spielmechanik, und damit eher dem ästhetischen Mittel Simulation, will ich nun zur Kunst übergehen. Myst Exiles Soundtrack wurde von Jack Wall komponiert. Seine atmosphärische Musik, die zwischen regungsloser Ambience bis zu höchst dramatischen, lautstarken Orchestern geht, ist phänomenal und war ein früheres Beispiel für das, was sich später als „epische Musik“ herausbildete. Die Grafik ist für Myst erstmals 360°‑Panorama–Grafik. Zuvor gab es diese in Legacy of Time, dort jedoch weniger überzeugend, etwa konnte einem die Sonne nicht wirklich „ins Auge fallen“, und Cutscenes waren dort gewöhnliche Videos, in Exile sind sie dies nicht.

Neu ist auch, mit welcher Tiefe es nun möglich (und erforderlich) ist, sich mit den Charakteren auseinanderzusetzen. Tagebücher waren schon immer in Myst eine altbekannte Quelle, um über die Meinungen und Erkenntnisse der Personen zu erfahren, aber im Fall von Saavedros Büchern offenbaren sie viel mehr: Sie halten dem Spieler vor Augen, wie er gelitten hat, wie er das Gefühl hatte, zu sterben, und wie er nach überaus langer Zeit schließlich Tomahna auffand, wo er sich hinbegab, und Katharina hörte, wie sie glücklich mit einer anderen Frau sprach – und wie es ihn an seine Frau Tamra erinnerte. Dourif spielt Saavedro äußerst überzeugend, und es dürfte schwierig gewesen sein, diesen Charakter mit einem psychischen Ausnahmezustand glaubhaft wiederzugeben.

Bemerkenswert ist nicht zuletzt auch, wie monumental sich die Zeitalter zeigen: Amateria ist eine riesige physikalische Versuchsanlage, in der riesige Kugeln kontrolliert werden müssen, um so die Naturkräfte der Geschwindigkeit zu verstehen. Eine persönliche Anekdote: Mein Vater hielt das Gewitter dort einmal für echtes. Doch neben der eigentlichen naturwissenschaftlichen Ernsthaftigkeit, die Amateria verkörpern sollte, offenbart es dem Spieler eine Art zweite emotionale Wirklichkeit, die eher durch das Erscheinungsbild der Welt, der dort vorgefundenen Artefakte und keinesfalls zuletzt durch die Musik verstanden werden kann. Und Edanna scheint alleine den Gesetzen der Natur zu unterliegen, und während sich über einem der große blaue Vogel majestätisch erhebt, der dabei ist, Nahrung zu seinen Jungtieren zu bringen, muss man selbst die Pflanzen beherrschen können, um an all die inneren Orte zu gelangen, um dann festzustellen, wie auch hier Sirrus und Achenar Zerstörung hinterlassen haben.

Nach dem Besuch der drei Welten kommt schließlich alles, was bisher erarbeitet wurde, zusammen: Der einzige Versuch, Releeshan zurückzuholen. Gleich zu Beginn in Narayan begegnet man Saavedro, der einen warnt, und bisher dachte, Atrus sei ihm gefolgt. Hier entsteht der Höhepunkt, indem man Saavedro überwältigen muss, indem man ihn in eine Aussichtslose Situation bringt, und er einem so Releeshan gibt. Nun bleibt einem überlassen, ob man Saavedro in seine Heimat befreit, oder ihn für immer in den Ruinen zurücklässt. Meiner Auffassung nach ist nur ersteres die richtige Lösung, da Saavedro eindeutig psychisch geschädigt wurde, und nicht im Stande war, normal Entscheidungen zu treffen.

Myst Exile überzeugt. Seine Dramatik führt dazu, dass man es immer wieder spielen kann, und auch gekonnte Let‘s‑Play–Videos eine Film-nahe Erfahrung schaffen können. Visuelle Panstilistik lässt sich in einem Werk, dessen Fotorealismus immer das prägende Merkmal war, nicht erwarten, dafür aber eine überwältigende Natur und Landschaft, realistische Herausforderungen, und die Anregung der Vorstellung als drittes ästhetisches Mittel. Die Anforderungen an das Prinzip des Universums erfüllt Myst Exile ohnehin durch all seine Hintergrundinformationen, die es ohne spielmechanische Notwendigkeit vermittelt und zum D'ni‑Universum beiträgt.

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