Ästhetik und KI

Angenommen, du lernst jemanden online kennen. Die Person ist sympathisch, hat ähnliche Interessen, ist geistreich und intelligent, ihr befreundet euch schnell. Treffen mit ihm sind leider nicht möglich. Doch da du aus stundenlangen Telefongesprächen seine Stimme, sowie durch Fotos und Video sein Gesicht kennst, vertraust du ihm und bist überzeugt, dass es sich bei der Bekanntschaft nicht um einen Lovescammer handelt. Jahre vergehen, ohne dass du ihm jemals persönlich gegenüberstehst, dennoch wird er einer deiner besten Freunde, eventuell unterhältst du sogar eine Fernbeziehung mit ihm. Und nun stellt sich heraus, dass er nie existierte.

Die Fotos und Videos dieser Person sind generiert, eine künstliche Intelligenz schrieb Nachrichten und ein WaveNet-Modell kommunizierte mit dir in einer menschlichen Stimme. Wie würdest du darauf reagieren? Aller Wahrscheinlichkeit nach wäre dies ein psychischer Schock, dazu kämen Verunsicherung und paranoide Störungen. Wie viele Freunde und Bekannten sind ebenfalls künstliche Intelligenz? Dabei waren die Erfahrungen mit deinem „Freund“ real. Sämtliche Unterhaltungen, die angeregten Diskussionen und Witze, alles so, wie es von einer echten Person zu erwarten wäre. Hättest du die Wahrheit nicht herausgefunden, ließe sich diese Beziehung ohne Probleme fortführen, aber da es sich eben nicht um einen Menschen handelt, steht eine Fortsetzung völlig außer Frage. Warum eigentlich?

Künstliche Intelligenzen zogen schon seit Jahren Aufmerksamkeit auf sich, seit neuestem richtet sich das öffentliche Interesse auf von KIs erstellten Kunstwerken. Geschichten wie Today Is Spaceship Day oder Harry Potter and the Portrait of What Looked Like a Large Pile of Ash, beide verfasst von einem Programm namens „Botnik“, erfreuen sich großer Beliebtheit. Die Universalität dieser Werke ist fraglich, da die Texte einen ausgeprägt spezifischen, nicht variablen Stil haben, und der Inhalt ohne Erkennbarkeit einer wirkungsgebenden Absicht diskrepant ist. Vielmehr unterhalten diese Werke durch ihre Absurdität und Unberechenbarkeit, als dass ihre Urheber als seriöse Autoren und Konkurrenz für die menschliche Kreativität wahrgenommen werden. Ein Jahr später änderten sich die Möglichkeiten der KI. AI-Dungeon und speziell GPT-3 zeigen, dass ernste Literatur von KIs (oder mit deren Unterstützung) schon heute eine Frage der Ressourcen ist. Wir könnten diese Entwicklung ignorieren, zunächst jedenfalls. Irgendwann werden wir uns allerdings damit auseinandersetzen müssen, dass KIs zu einer Konkurrenz für menschliche Autoren heranwachsen werden, vor allem aber mit den Auswirkungen.

Hier exemplarisch eine Vervollständigung von Kafkas "Die Verwandlung" (in einer englischen Public-Domain-Übersetzung auf Grundlage des ersten Absatzes). Trotz der klaren Abweichung vom tatsächlichen Geschehen hat GPT-3 das Allgemeinwissen über die Namen Grete und die Wirkung des Textes unterscheidet sich klar von den oben verlinkten Videos.

Im Technetoismus ändert sich auf theoretischer Ebene nicht viel. Der Fokus liegt auf dem Universum, den Implementierungen und den Rezipienten, nicht auf dem Künstler. Durch die angestrebte Autonomie in der Universumstheorie sind der Entstehungsprozess und die Person hinter dem Kunstwerk nebensächlich, Fanart und Gateway lösen zudem den Urheber als absolute Autorität ab. Wichtig sind die Wahrnehmung und das Erlebnis der Ästhetik, nicht deren Kontext. Allerdings gilt das lediglich für das theoretische Modell, denn hier stoßen wir auf die Grenzen der Autonomie.

Hermann Hesse zähle ich zu meinen absoluten Lieblingsautoren. Nachdem ich seinen Roman Der Steppenwolf las, besorgte ich mir alle Hesse-Werke die sich auftreiben ließen, und las im Internet seine Lebensgeschichte nach, seine Reiseberichte und Tagebucheinträge. Hesses Werke üben auf mich große Faszination aus und obwohl diese nicht unbedingt technetoistisch sind, spricht seine Literatur ohne des Kontexts und Paratexts für sich selbst. Um sie zu verstehen, war es nicht nötig, Hesse zu recherchieren. Doch seine Werke haben mein Interesse an ihm geweckt, und ich denke, dass dies viele Leser mit ihren Lieblingsautoren, Lieblingskünstlern im Allgemeinen ähnlich sehen. Manche behaupten sogar, dass das Gefühl der Verbundenheit mit dem Künstler ihr ästhetisches Erlebnis verstärkt. Aus technetoistischer Sicht stellt uns das vor ein Problem. Die Ästhetik eines Werkes sollte ausschließlich von den Inhalten kommen, damit das Universum und seine Implementierungen autonom stehen. Jegliche Ästhetik, die vom Urheber selbst ausgeht, untergräbt somit - absichtlich oder nicht - die Autonomie des Universums.

Vergleicht man dieses Phänomen zwischen den unterschiedlichen Kunstgattungen, zeigt sich, dass es nicht gleich für alle Gattungen gilt. Wenn jemand ein imposantes Bauwerk betrachtet, so wird er der Baumeister und Architekten gedenken, doch primär geht die Ästhetik von der Architektur selbst aus. Ähnliches gilt für Videospiele. Dass ein Spiel von einer einzigen Person programmiert und vertrieben wird, ist nur im Independet-Bereich und der Anfangszeit bekannt. Gewöhnlich steht hinter dem Werk ein ganzes Game-Studio, nicht selten ein Wirtschaftsunternehmen. Gerade in diesem Falle sind die Urheber des Werkes als Kollektiv zu abstrakt, als dass der Rezipient eine innige, persönliche Bindung zu ihnen aufbauen könnte. Das zeigt sich in dem Beispiel mit der künstlichen Intelligenz: Ein Spiel, in dem man mit den NPCs über die Tastatur kommunizieren kann und sinnvolle Antworten bekommt, wäre sicher eine große Sensation, würde von der Bevölkerung aber sicher bei weitem nicht so befremdlich wirken, wie ein emotionales Buch, das von einer KI verfasst wurde. Ich behaupte, dass Ähnliches für KI-generierte Architektur gilt. Würde eine KI sämtliche Pläne für ein Bauwerk erstellen, wäre das bemerkenswert, doch wieder nicht vergleichbar mit dem Effekt von computergenerierter Literatur. Bei den verschiedenen Kunstgattungen herrschen unterschiedliche Distanzen zwischen Autor und Rezipient, die den direkten ästhetischen Einfluss des Autoren bestimmt. Die Abkehr von einem einzelnen Urheber in der Literatur hin zu einem kollaborativ verfassten Universum, von vielen Personen gleichberechtigt implementiert, kann technetoistisch akzeptierte Werke ohne diese Innigkeit zu einem Autor normalisieren; entsprechend vorstellbar dann die Akzeptanz von Literatur, die überhaupt nicht vom Menschen stammt.

Wollte man das Problem der begrenzten Autonomie unter rein praktischen Aspekten angehen, wäre der Ansatz eine Sensibilisierung der Bevölkerung für KI-generierte Ästhetik generell, angefangen mit den abstraktesten Kunstgattungen, die den Rezipienten am wenigsten fragwürdig erscheinen, bis sie, eines Tages, auch KI-generierte Literatur nicht mehr hinterfragen. Selbstverständlich ist dies soziologisch und ästhetisch problematisch. Die Verbundenheit mit einem Künstler mag zwar untechnetoistisch sein, das macht sie aber nicht weniger wertvoll und schützenswert. Ich halte es für erstrebenswert, dass von KI erstellte Ästhetik die menschlich erschaffene ergänzt, und gar nicht erst versucht, sie zu ersetzen. Dass sich nicht der beste Freund als eine KI herausstellt, sondern faszinierende und bereichernde Konversationen mit einer KI entstehen, die sich nicht als Mensch ausgibt. Emotionen kann ein Computerprogramm simulieren, selbst fühlen wird ein Schaltkreis diese aber nie können, weshalb sich der Mensch nie ersetzen lassen wird.

Dazu ist die Freundschaft kein technetoistisches Werk, auch nicht eine Implementierung von Universen. Es ist nicht Sinn einer Freundschaft, sich so zu verhalten, wie es ästhetisch angemessen ist, oder zumindest nur selten und mit vorheriger Absprache (ÄV, das man freilich insbesondere auch mit Freunden ausüben kann). Würde man im Internet einem Benutzerkonto begegnen, das sich als Anime-Charakter ausgibt (diese Praxis ist etabliert), und mit diesem im Kontext der fiktionalen Lebensrealität des Charakters schreiben, fiele der Schock, wenn man erfährt, dass GPT-3 dahintersteckt, wohl geringer aus. Er wäre sogar eher Begeisterung für die Technologie.

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